Die Angst vor den eigenen Gefühlen – Wie unterdrückte Emotionen unser Nervensystem prägen und wie wir wieder in Verbindung kommen
- info44776
- 8. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Ein psychologisch-neurologischer Blick auf das Verdrängen von Gefühlen – und den Weg zurück zu uns selbst.
Der Anfang: Warum wir aufhören zu fühlen
Viele Menschen lernen sehr früh im Leben, dass es nicht sicher ist, Gefühle zu zeigen – oder sogar, sie überhaupt zu fühlen. Vielleicht wuchsen wir in einer Umgebung auf, in der Schmerz, Angst oder Wut als „zu viel“ galten. Wo Tränen ignoriert oder bestraft wurden, wo Rückzug oder Anpassung überlebenswichtig waren. Also lernten wir: Emotionen sind gefährlich. Sie bringen Ablehnung, Chaos oder Kontrollverlust.
Um in solchen Bedingungen zu bestehen, greift unser Nervensystem zu einer alten, bewährten Strategie: Es dämpft die innere Reaktion. Es trennt uns vom Fühlen ab. Das nennt man auch emotionale Suppression oder Verdrängung. Kurzfristig schützt es uns – langfristig kostet es uns die Verbindung zu uns selbst.
Was im Gehirn und Nervensystem passiert
Das limbische System, insbesondere die Amygdala (unser emotionales Frühwarnsystem), spielt eine zentrale Rolle beim Fühlen und bei der Verarbeitung emotionaler Reize. Wird ein Gefühl jedoch regelmäßig unterdrückt, verändert sich unsere neuronale Verschaltung. Der präfrontale Cortex (zuständig für Bewertung und Kontrolle) übernimmt immer mehr die Führung – nicht in Balance, sondern in Dominanz. Das Ergebnis: Wir analysieren statt zu empfinden. Wir denken über Gefühle nach, statt sie zu erleben.
Das autonome Nervensystem – genauer: der Vagusnerv und seine Rolle im parasympathischen System – wird in solchen Zuständen oft überfordert. Menschen, die dauerhaft unterdrücken, pendeln häufig zwischen Sympathikus (Kampf- oder Fluchtreaktion) und dorsalem Vagus (Abschalten, Erstarren, Dissoziation). Das innere Gleichgewicht ist verloren.
Langfristig erlebt das Nervensystem Fühlen als Bedrohung. Emotionen werden als „unsicher“ klassifiziert – selbst Freude, Verletzlichkeit oder Nähe.
Die psychischen Folgen: Funktionieren statt leben
Auf psychischer Ebene zeigt sich das oft als:
Chronische Anspannung
Emotionale Taubheit oder Leere
Erschöpfung trotz „nichts passiert“
Reizbarkeit, Zynismus oder Depression
Unfähigkeit, Nähe oder Intimität zuzulassen
Perfektionismus und übermäßige Kontrolle
Wir funktionieren – aber wir leben nicht wirklich. Wir sind da – aber nicht ganz. Und oft wissen wir gar nicht mehr, warum.
Wie wir wieder in Verbindung kommen
Die gute Nachricht: Unser Nervensystem ist plastisch. Was gelernt wurde, kann auch wieder verlernt werden. Der Weg zurück beginnt nicht mit dem „Fühlen auf Knopfdruck“, sondern mit Verständnis und Akzeptanz.
1. Verstehen, warum es so ist
Wenn wir begreifen, dass unser Schutzmechanismus sinnvoll war – dass wir einst keine Wahl hatten –, fällt es uns leichter, Mitgefühl mit uns selbst zu entwickeln. Verdrängung war ein Akt der Intelligenz, kein Versagen.
2. Sicherheit neu verknüpfen
Unser Nervensystem braucht neue Erfahrungen von Sicherheit. Das geschieht in kleinen Dosen: durch achtsames Spüren im Körper (somatische Achtsamkeit), durch Atemarbeit, durch Begegnung mit Menschen, die uns emotional halten können. Co-Regulation ist hier zentral – wir heilen oft in Verbindung, nicht in Isolation.
3. Die Angst vor Gefühlen verlieren
Gefühle sind nicht gefährlich – sie sind bewegte Energie. Wenn wir lernen, Angst, Trauer oder Wut nur als Wellen zu betrachten, die kommen und gehen, verlieren sie ihren Schrecken. Das braucht Zeit und Wiederholung. Aber mit jedem Mal spürt das Nervensystem: „Ich kann das fühlen – und überleben.“
4. Gefühle benennen und erlauben
Schon das Benennen („Ich spüre gerade Druck im Brustkorb“, „Da ist Angst“) aktiviert den präfrontalen Cortex auf regulierende Weise. Sprache kann Brücken bauen zwischen Gefühl und Verstand. Erlaubnis ist der Schlüssel: Nichts muss weg. Alles darf da sein.
Fazit: Zurück zum Selbst
Wenn wir über Jahre unsere Gefühle unterdrücken, lernt unser Körper: Fühlen ist unsicher. Doch das war eine Geschichte aus der Vergangenheit – keine Wahrheit über unsere Gegenwart. Heute dürfen wir uns neu entscheiden.
Der Weg zurück ist kein Durchbruch, sondern ein Prozess. Ein Wiederlernen von Sicherheit im Fühlen. Ein Heimkommen in den eigenen Körper. Und eine stille Erkenntnis: Ich darf fühlen. Ich darf ganz sein.

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